Splintercat
Splintercat – Die katzenhafte Holzfällersage Nordamerikas
Mitten in den endlosen Wäldern Nordamerikas, wo die Kronen der Douglasien und Hemlocktannen in den Himmel ragen, entstand im 19. Jahrhundert eine eigenwillige Form von Folklore: die „Fearsome Critters“, furchterregende und zugleich humorvolle Tiergestalten, die von Holzfällern am Lagerfeuer erzählt wurden. Zwischen Hacke, Säge und schwerer Arbeit war der Abend voller Geschichten eine Möglichkeit, den Alltag zu überhöhen und mit Fantasie auszustatten. Unter diesen Wesen nimmt die Splintercat einen besonderen Platz ein – eine riesige, katzenhafte Kreatur, die mit unbändiger Kraft durch die Wälder streift und Bäume zerschmettert.
Die Splintercat ist kein Dämon im religiösen Sinn, auch keine Göttin oder mythologische Gottheit wie Sekhmet oder Bastet. Vielmehr gehört sie zur Welt der Arbeitermythen: Sie erklärt auf scherzhafte Weise seltsame Naturphänomene, gibt den Menschen Stoff zum Lachen – und erzeugt zugleich eine Atmosphäre von Furcht, die die Einsamkeit des Waldes noch intensiver macht. Wer nachts im Wald einen Donner hört oder am Morgen einen umgestürzten Baum findet, konnte augenzwinkernd sagen: „Die Splintercat war hier.“
Herkunft
Die Wurzeln der Splintercat liegen in der Holzfällerfolklore des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Damals waren die Wälder im Nordosten und Nordwesten Nordamerikas von Arbeitern durchzogen, die wochenlang fernab der Zivilisation lebten. Abends am Feuer entstanden Geschichten über imaginäre Tiere, die man „Fearsome Critters“ nannte. Dazu gehörten auch das Hodag, der Axehandle Hound oder der Squonk. Die Splintercat war eine dieser Kreaturen, die aus Übertreibung, Naturbeobachtung und blankem Humor geboren wurden.
Die Sage erklärt vermutlich seltsame Landschaftsformen, insbesondere Baumgruppen, die wie „zertrümmert“ wirken. Im pazifischen Nordwesten gibt es ganze Hänge mit umgestürzten Bäumen, die durch Wind, Lawinen oder Steinschlag gefallen sind. Statt nüchterner Erklärung war es viel unterhaltsamer, sich ein riesiges katzenhaftes Tier vorzustellen, das mit voller Wucht durch die Nacht rast und die Stämme zerfetzt.
Erstmals schriftlich belegt ist die Splintercat in Sammlungen der „Fearsome Critters“, besonders in William T. Cox’ Buch Fearsome Creatures of the Lumberwoods (1910er-Jahre). Hier wurde sie zu einer literarischen Figur, die dann in weiteren Erzählungen, später auch in Comics und Internetmythen, wieder auftauchte.
Erscheinung
Die Splintercat ist eine gigantische, katzenartige Kreatur. Manche Beschreibungen lassen sie wie einen übergroßen Luchs wirken, andere wie eine Mischung aus Berglöwe und Panther. Ihre markanteste Fähigkeit ist die enorme Schlagkraft: Mit ihrem Schädel oder mit den Pranken rennt sie gegen Bäume, sodass die Stämme zersplittern – daher ihr Name.
Sie jagt angeblich bevorzugt Waschbären und Bienen, weshalb sie in Baumhöhlen rast, um Honig oder kleine Tiere zu erreichen. Doch ihr Vorgehen ist so übertrieben gewalttätig, dass sie dabei gleich ganze Wälder verwüstet. Ein einziger Angriff genügt, um dicke Stämme zu sprengen.
In manchen Versionen wird die Splintercat als nachtaktiv beschrieben, mit glühenden Augen, die in der Dunkelheit funkeln. Ihr Fell sei dunkel, manchmal gestreift wie das eines Tigers, manchmal gleichmäßig schwarz. Der Kopf wirkt über proportioniert, da er als Rammbock dient. Es heißt, kein Knochen könne ihrer Kraft widerstehen.
Legenden
Die Erzählungen über die Splintercat schwanken zwischen Gruselgeschichte und Komödie. Holzfäller erzählten, wie sie nachts das Krachen eines ganzen Waldes hörten, nur um am Morgen eine Lichtung voller gesplitterter Bäume zu finden. Andere beschrieben, wie die Splintercat auf Waschbärenjagd ging, dabei aber eine Schneise der Verwüstung schlug, die so breit war wie ein Zug.
Besonders beliebt war die Erklärung, dass bestimmte kahle Hügelhänge, auf denen kaum mehr Bäume standen, von der Splintercat verursacht worden seien. Wenn ein Sturm ganze Hänge entwaldete, hieß es: „Da ist sie wieder durchgerast.“
In einigen humorvollen Varianten scheiterte die Splintercat auch: Sie rannte so verbissen in einen besonders dicken Baum, dass sie bewusstlos liegen blieb. Holzfäller nutzten solche Geschichten, um sich gegenseitig auf die Schippe zu nehmen.
Die Legende lebte vor allem von der Übertreibung: Je mehr Bäume sie fällte, je mehr Chaos sie anrichtete, desto besser die Geschichte. So wurde die Splintercat zu einem Maskottchen der Holzfällerkultur – ein Sinnbild für rohe Kraft und zerstörerische Energie, die zugleich belustigend war.
Symbolik
Auf den ersten Blick ist die Splintercat ein reiner Scherz. Doch hinter ihr verbirgt sich mehr. Sie steht für:
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Naturgewalt: Die rohe Energie von Stürmen, Lawinen und Waldbränden wird in eine Katze verwandelt.
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Angstbewältigung: Holzfäller, die einsam und in Gefahr lebten, gaben ihren Sorgen eine Gestalt, die man zugleich fürchten und auslachen konnte.
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Katze als Chaoswesen: In vielen Kulturen sind Katzen zwischen Ordnung und Unordnung. Die Splintercat ist die extreme Variante: Sie bringt nichts als Zerstörung.
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Erklärung von Landschaft: Statt nüchterner Naturkunde wählte man die poetische Erklärung: Ein Tier hat’s getan.
Die Splintercat ist somit auch eine satirische Figur. Sie verspottet die übertriebene Naturfurcht und macht sich lustig über die Neigung, in allem ein Monster zu sehen.
Vergleich zu anderen Katzenwesen
Stellt man die Splintercat neben andere Katzenwesen, zeigt sich ihr besonderer Charakter:
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Mishipeshu (Nordamerika): Ebenfalls mit Wasser und Naturgewalt verbunden, doch ehrfurchtgebietend und spirituell.
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Kasha (Japan): Dämonisch, seelenraubend – eine Katze des Todes.
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Glawackus (USA): Ein modernes Phantomtier, halb realistisch, halb unheimlich.
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Sekhmet (Ägypten): Göttlich, ambivalent zwischen Heilung und Zerstörung.
Die Splintercat ist dagegen rein folkloristisch: kein göttliches Wesen, kein spiritueller Wächter, sondern eine Erfindung am Lagerfeuer. Sie zeigt, wie der Mensch mit Fantasie und Humor seine Umwelt erklärt.
Moderne Rezeption
Heute taucht die Splintercat in Büchern, Comics und sogar Videospielen auf. Sie hat einen Platz in der „Fearsome Critter“-Sammlung und wird manchmal als Maskottchen in Fantasy- oder Rollenspielwelten verwendet. In Oregon gibt es sogar einen Wanderweg namens „Splintercat Trail“, der sich auf die Legende bezieht – dort sieht man kahle Hänge, die angeblich von der Splintercat verursacht wurden.
Im Internetzeitalter lebt die Splintercat weiter, oft illustriert als Mischung aus Tiger und Monsterkatze, mit grotesk übergroßem Kopf. Sie gehört damit zu den Wesen, die aus einer Nischenfolklore in die Popkultur übergegangen sind.
Fazit
Die Splintercat ist mehr als nur ein albernes Märchen. Sie ist ein Stück Holzfällerhumor, eine Antwort auf die Härte des Lebens im Wald. Mit ihrer Hilfe konnte man Angst und Einsamkeit verwandeln – in Lachen, Gemeinschaft und Geschichten. Sie erklärt bizarre Landschaftsphänomene, macht die Nacht im Wald unheimlich und zugleich unterhaltsam.
Im Reigen der Katzenwesen nimmt sie eine besondere Stellung ein: keine Göttin, kein Dämon, sondern ein Kulturscherz, der doch ernsthafte Fragen berührt – wie wir mit Naturgewalt umgehen, wie wir Landschaft deuten, wie wir Angst in Erzählung verwandeln.
Die Splintercat bleibt so eine Katze aus Holz und Legende: brüllend, zerstörerisch, aber im Kern ein Spiegel menschlicher Fantasie – die Fähigkeit, selbst im gefährlichen Wald ein Augenzwinkern zu finden.