Jólakötturinn
Jólakötturinn – Die isländische Weihnachtskatze
Ursprung der Legende
Die Jólakötturinn („Weihnachtskatze“) ist eine der bekanntesten Sagengestalten des isländischen Volksglaubens. Schon im Mittelalter erzählte man von einer riesigen, unheimlichen Katze, die in den dunklen Nächten um die Wintersonnenwende durch die Dörfer streifte. Anders als viele andere Katzenwesen hat sie keinen rein mythisch-magischen Ursprung, sondern wurzelt im Alltag der Menschen: im Spinnen und Weben von Wolle, in harter Arbeit und im sozialen Druck, den Winter überleben zu müssen.
Die Legende erfüllte damit eine doppelte Funktion – als Schreckgestalt und als Erziehungsinstrument, das Arbeitsmoral und Gemeinschaftsdisziplin fördern sollte.
Erscheinung und Bedrohung
Der Jólakötturinn wurde als riesige, pechschwarze Katze beschrieben, deren Augen wie brennende Kohlen in der Finsternis glühten.
In manchen Erzählungen war er so groß wie ein Haus, in anderen schlich er lautlos wie ein Schatten über verschneite Felder und Friedhöfe. Besonders gefürchtet war sein Heißhunger: Er soll all jene verschlungen haben, die es bis Weihnachten nicht geschafft hatten, ein neues Kleidungsstück zu bekommen.
Dieser grausige Aspekt verlieh der Erzählung eine unmittelbare pädagogische Funktion – ein perfekter Anreiz, in den langen Wintern fleißig zu sein und Wolle rechtzeitig zu verarbeiten.
Verbindung zu Grýla und den „Weihnachtskerlen“
Die Weihnachtskatze ist eng mit anderen Sagengestalten der nordischen Folklore verbunden, besonders mit der Riesin Grýla.
Grýla war eine gefürchtete Trollfrau, die unartige Kinder in einen Sack steckte und verschlang.
Ihre Söhne, die „Jólasveinar“ (Weihnachtskerle), waren schelmische Figuren, die in den 13 Nächten vor Weihnachten ihr Unwesen trieben.
Der Jólakötturinn gilt in vielen Geschichten als Haustier oder Begleiter dieser Trollfamilie. Während Grýla die Kinder im Auge behielt, war die Katze für die Erwachsenen zuständig:
Sie bestrafte Faulheit, indem sie Trägen den Garaus machte. So ergänzten sich die Mythen zu einem abgeschlossenen moralischen System, das Groß und Klein gleichermaßen disziplinierte.
Pädagogische Funktion und sozialer Hintergrund
Die Legende erfüllte vor allem in den bäuerlichen Gemeinschaften Islands einen Zweck. Die Winter waren hart, Nahrung knapp und Kleidung überlebenswichtig. Das Spinnen von Wolle und die Herstellung warmer Kleidung war daher kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Wer keine neue Kleidung hatte, galt als faul – oder zumindest als jemand, der seine Pflichten vernachlässigt hatte.
Die Weihnachtskatze diente also als Druckmittel: Wer bis zum Fest kein Kleidungsstück vorweisen konnte, riskierte, vom Riesen-Kater verschlungen zu werden. Auf diese Weise wurden Kinder schon früh an Fleiß und Verantwortung erinnert, und auch Erwachsene erhielten ein deutliches Signal, nicht nachzulassen.
Literarische und kulturelle Überlieferungen
Die Jólakötturinn taucht nicht nur in mündlichen Überlieferungen auf. Im 20. Jahrhundert wurde die Figur durch den Dichter Jóhannes úr Kötlum bekannt, der ihr in seinem Gedichtband „Jólin koma“ („Weihnachten kommt“, 1932) ein Denkmal setzte.
Dort wird die Katze als furchterregendes Wesen beschrieben, das auf die Fleißigen achtet und die Nachlässigen verschlingt.
Bis heute gehört dieses Gedicht zu den Klassikern der isländischen Weihnachtsliteratur.
Auch Kinderbücher, Volksmärchen-Sammlungen und moderne Erzählungen greifen die Gestalt auf – mal düster, mal in einer humorvolleren Form.
Moderne Rezeption
Obwohl der Mythos ursprünglich Angst und Disziplin erzeugen sollte, ist der Jólakötturinn heute Teil der festlichen Kultur. In Reykjavík wird alljährlich eine riesige Weihnachtskatzen-Skulptur aufgestellt, die zu einem beliebten Fotomotiv für Einheimische und Touristen geworden ist. Souvenirs, Plakate und sogar Weihnachtslieder greifen das Motiv auf.
Auch in der Popkultur findet die Gestalt ihren Platz: in Fantasy-Rollenspielen, Comics und Internet-Memes wird die Weihnachtskatze häufig dargestellt – oft weniger furchterregend, sondern als Symbol für die Eigenart und den Humor der isländischen Weihnachtsbräuche.
Fazit
Der Jólakötturinn ist mehr als ein winterliches Schreckgespenst. Er verkörpert eine alte Lebenswirklichkeit, in der Fleiß, Zusammenarbeit und Kleidung über Leben und Tod entscheiden konnten. Zugleich zeigt er, wie Volksglauben eine Gesellschaft formt – und wie Katzen immer wieder zu Symbolen zwischen Magie, Drohung und Schutz wurden.
Heute ist er eine Kultfigur, die Touristen begeistert und den Isländern selbst ein Stück ihrer alten Erzähltradition vor Augen führt: die Mischung aus Ernst, Humor und ein wenig Grusel, die das Weihnachtsfest bis heute prägt.
Die Legende vom Jólakötturinn lebt bis heute fort – nicht nur in Erzählungen, sondern auch in Musik und Kunst. Die isländische Sängerin Björk hat dem unheimlichen Weihnachtskater ein eigenes Lied gewidmet. Ihr Video verbindet die düstere Stimmung der alten Überlieferungen mit moderner, künstlerischer Ausdruckskraft – und zeigt, wie tief der Mythos noch immer in der Kultur Islands verwurzelt ist.