Gatipedro
Der mystische Gatipedro – Die galicische Einhornkatze
Der Gatipedro ist ein einzigartiges Fabelwesen der galicischen Folklore. Er gehört nicht zu den schrecklichen Monstern, die Kinder das Fürchten lehren sollen, sondern zu den skurrilen und fast liebevollen Gestalten, die Alltägliches auf fantastische Weise erklären.
Seine Hauptfunktion: Er sorgt dafür, dass Kinder nachts ins Bett machen. So simpel dies klingt, so bemerkenswert ist die Rolle, die er in Galicien bis heute spielt.
Der Mythos nimmt damit eine besondere Stellung ein. Während Figuren wie der „Coco“ Kinder durch Drohung disziplinieren, entlastet der Gatipedro die Kleinen von Schuldgefühlen.
„Nicht du warst es – die Einhornkatze war schuld“, heißt es sinngemäß. In dieser Mischung aus Trost, Humor und Fantasie liegt sein kultureller Wert.
Erscheinung und Eigenschaften
Das Aussehen des Gatipedro ist unverwechselbar: eine weiße Katze mit einem einzigen braunen Horn auf der Stirn – eine Art Einhornkatze. Die moderne Skulptur auf dem Praza do Humor in A Coruña zeigt ihn in dieser Form und macht deutlich, wie fest er in der Kultur verankert ist.
Besonders kurios ist seine Fortbewegung. Er läuft nicht nur auf seinen Pfoten, sondern stützt sich zusätzlich auf seine lange Zunge, die den Boden berührt. Genau hier setzt auch die traditionelle Abwehrmaßnahme an: Streut man Salz an Fenster oder Türen, leckt er es unabsichtlich beim Gehen auf – und verschwindet angewidert.
Nachts schleicht er in Kinderzimmer, tritt durch Fenster ein und gießt Wasser aus seinem Horn, wodurch das Kind träumt, es würde urinieren. Im Schlaf setzt sich der Traum fort – und am Morgen ist das Bett nass. Diese Mechanik macht den Gatipedro zu einem sehr speziellen Wesen: nicht furchterregend, sondern schelmisch und erklärend.
Zweck der Legende
Die Legende erfüllt eine klare Funktion: Sie erklärt das Bettnässen in einer Zeit, in der medizinisches Wissen begrenzt war und Scham schnell entstehen konnte. Der Gatipedro dient als „externe Schuldige“. Für Kinder bedeutet das Entlastung, für Eltern eine kulturverankerte Erklärung.
Im Vergleich zu anderen europäischen Fabelwesen zeigt sich der Unterschied:
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El Coco droht, unartige Kinder zu fressen.
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Der Gatipedro dagegen ist harmlos und erklärt ein Missgeschick ohne Strafe.
Damit verkörpert er einen psychologischen Puffer: Er entschärft ein sensibles Thema und verhindert Angst oder Schuldgefühle. Folklore übernimmt hier eine tröstende, fast therapeutische Funktion.
Herkunft und Entwicklung
Die Ursprünge liegen in der galicischen mündlichen Tradition. Später griff der bekannte Autor Álvaro Cunqueiro den Mythos auf und beschrieb ihn in seinen Büchern Escola de menciñeiros (1960) und Os outros feirantes (1971). Dort wird auch das Salz-Heilmittel erwähnt, das von einem Heiler empfohlen wird.
Cunqueiro machte den Gatipedro damit literarisch bekannt, doch die Gestalt selbst dürfte älter sein. Wahrscheinlich entstand sie in einem kulturellen Umfeld, das von keltischen, römischen und christlichen Einflüssen geprägt war. Typisch für die galicische Mythologie ist ihr synkretischer Charakter – alte Symbole wurden neu kombiniert. So erklärt sich auch die ungewöhnliche Mischung: Katze (nächtlich, häuslich), Horn (mythisch, magisch) und Wasser (lebensspendend, aber auch störend).
Gegenmaßnahmen
Die wichtigste Abwehrmaßnahme gegen den Gatipedro ist das Streuen von Salz an Fenstern und Türen. Seine Angewohnheit, auf der Zunge zu gehen, macht ihn besonders anfällig – er schmeckt das Salz und zieht sich zurück.
Diese Lösung wirkt banal, passt aber perfekt in die Logik der Volksmagie. Salz wurde in vielen Kulturen als Schutzmittel gegen böse Geister eingesetzt. Hier erhält es eine humorvolle Wendung: Nicht der Dämon selbst wird verjagt, sondern er stolpert quasi über seine eigene Physiologie.
Der Gatipedro in moderner Kultur
Heute ist der Gatipedro längst mehr als nur eine alte Kinderfabel. In A Coruña steht eine Skulptur von ihm auf dem Praza do Humor, eingerahmt von anderen kulturellen Figuren. Dort wird er nicht als Schreckgestalt, sondern als Symbol für Humor und Fantasie verstanden.
Auch in der Literatur lebt er fort. 2018 erschien O gatipedro von Jacobo Paz mit Illustrationen von Xosé Tomás, eine moderne Kindergeschichte, die den Mythos neu erzählt. Zudem taucht er in digitalen Medien auf – in Fan-Art, auf Plattformen wie Pinterest oder sogar in Geocaching-Geschichten. All das zeigt, wie wandelbar und anschlussfähig diese Legende ist.
Vergleich und Symbolik
Im Vergleich mit anderen mythischen Katzenwesen fällt der Gatipedro auf:
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Die Bakeneko in Japan ist gefährlich und kann Menschen töten.
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Die Matagot in Frankreich bringt Glück oder Unglück, je nach Behandlung.
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Der Wampus Cat in den USA ist eine wilde, furchteinflößende Gestalt.
Der Gatipedro dagegen ist ungefährlich und schelmisch. Seine Funktion liegt weniger in der Erzeugung von Angst als in der Erklärung und im Trost. Damit nimmt er im globalen Pantheon mystischer Katzen eine Sonderstellung ein.
Seine Symbolik vereint drei Elemente:
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Katze → Nachtwesen, geheimnisvoll, häuslich.
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Horn → magische Kraft, neu kontextualisiert.
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Wasser → Element des Lebens, hier humorvoll verdreht.
Fazit
Der Gatipedro ist ein sanftes Monster: keine Bedrohung, sondern ein Erklärungswesen, das Humor und Entlastung in eine peinliche Alltagssituation bringt. Seine Einhorn-Gestalt macht ihn märchenhaft, sein Zweck macht ihn menschennah.
Sein Fortbestehen in Literatur, Kunst und moderner Popkultur zeigt, wie lebendig die galicische Folklore ist. Er ist ein Beispiel dafür, wie Folklore nicht nur Angst schüren, sondern auch trösten und entlasten kann.
So bleibt der Gatipedro bis heute ein Symbol für die spielerische Seite des Mythos – eine Katze, die nicht faucht, sondern Wasser gießt, und damit ein Lächeln statt Schrecken hinterlässt.
Gleichzeitig erinnert er daran, dass Mythen nicht immer in den großen Schrecken oder heroischen Taten wurzeln müssen. Manchmal sind es gerade die kleinen, alltäglichen Sorgen – wie das nasse Bett eines Kindes –, die den Stoff für eine liebevolle Legende liefern. In dieser Einfachheit liegt die wahre Stärke des Gatipedro: Er macht das Menschliche mythisch und das Mythische menschlich.