Die Hexenkatze


Eines Nachmittags läutete es an der Türe. Ich öffnete. Es war meine Aufwartefrau, die mit einem undurchsichtigen, beinahe verlegenen Gesicht vor mir stand.


Nachdem sie ein paar Sekunden verlegen an ihrem Taschentuch herum genestelt hatte, sagte sie errötend: »Entschuldigen Sie bitte, Frau Bouissou, ich möchte Sie nicht stören, aber ich komme wegen einer Sterbenden, die Sie unbedingt zu sprechen wünscht.«

Als die Concierge mein fragendes Gesicht sah, fuhr sie fort: ››Ach, Sie wußten nicht, daß... Ich meine die Frau, die Ihnen gegenüber wohnt und früher immer an ihrem Fenster saß . . . Sie kennen Sie doch! Sie war stets schwarz gekleidet . . .«

Die schwarz gekleidete Frau auf der anderen Seite? Natürlich, die hatte ich schon oft gesehen, wenn sie wie ein alter Rabe hinter den Tüllvorhängen ihres Fensters lauerte und stundenlang herüber spähte. Aber wenn sie auch wußte, wer bei mir ein- und ausging, war das doch kein Grund, mich an ihr Sterbebett zu rufen.

Doch die Concierge drängte: ››Wirklich, glauben Sie mir, Frau Bouissou, sie ist am Sterben, schwer krebskrank; der Doktor hat es mir selber gesagt, und ich habe soeben den Priester rufen lassen.

Natürlich, ich weiß, sie ist eine wunderliche Person. . . aber sie liegt in den letzten Zügen . . .«

Oben angekommen, nahm sie einen Schlüssel aus ihrer Schürzentasche, öffnete eine Tür und rief jemandem, den ich nicht sehen konnte: ››Frau Bouissou ist da! Ich gebe ihr meinen Schlüssel; sie wird ihn mir dann wieder zurückbringen.« Zu mir gewandt, flüsterte sie zutraulich: »Wissen Sie, Frau Bouissou, sie hat Angst. Sie müssen ihr etwas Mut machen . . .« und ließ mich dann in einem großen, menschenleeren Zimmer stehen. 

In dem gepflegten, hell tapezierten Salon, in dem ich mich befand, herrschte tadellose Ordnung. In einer Ecke im Hintergrund entdeckte ich eine kleine Wendeltreppe. Ich stieg die wenigen Stufen hinauf und befand mich in einer Art großen Loge mit einem Diwan, auf dem jemand lag. Es war die kranke Frau, die mich gerufen hatte. Erst schaute sie mich mit ihren großen, gebieterischen Augen mißtrauisch an, dann aber reichte sie mir die Hand, dankte mir für mein Kommen und bat mich, neben ihr Platz zu nehmen. 

Die schwarzen Augen der Kranken blieben unablässig auf mich gerichtet. Ihr müder, fein gezeichneter Kopf war trotz der leisen Spuren ihres Leidens noch sehr schön, und auch die prächtigen schwarzen Haare schienen von der tückischen Krankheit nur wenig in Mitleidenschaft gezogen. Obwohl sie im Bett lag, trug sie ein langes, schwarzes Kleid aus leichtem Samt, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen reichten. Der Wand entlang grinsten zwanzig in einer Reihe aufgestellte, in Ebenholz geschnitzte Negermasken, und über dem Bettende stand eine schwarze, aus einem einzigen Stück Holz verfertigte Doppelfigur mit übertrieben großen Köpfen und Bäuchen, welche die Kranke von oben herab bewachte. 

Ich versuchte, der armen Frau ein paar gute Worte zu sagen. Sie hörte mir schweigend zu. Als ich einen Augenblick innehielt, stöhnte sie plötzlich: ››Ich muß sterben . . . Ich bitte Sie, mir alles Böse, das ich Ihnen angetan habe, zu verzeihen.« Ich schaute sie überrascht an. War die Krankheit bereits so weit fortgeschritten, daß sie mich nicht mehr kannte und mit einer anderen Frau verwechselte? Aber sie konnte nicht im Fieber sprechen. Ihre großen, schwarzen Augen, die noch immer auf mir ruhten, waren ruhig und klar. Verlegen antwortete ich ihr: ››Sie haben mir nichts Böses getan. Ich habe Ihnen doch gar nichts zu verzeihen.« Ihr Gesicht verzog sich für einen Augenblick in einem unheimlichen Lächeln.

Oder täuschte ich mich? Schon waren ihre großen Augen wieder ruhig auf mich gerichtet, und sie versuchte, mir zu erklären: ››Sie haben meine Wohnung gemietet, an der ich mit allen Fasern hing. Weil Sie die Wohnung wollten, hat man mich hinausgejagt. Vorher habe ich dort drüben die Karten gelegt - genauso, wie Sie es heute tun, denn auch ich bin ein Medium. Dann aber sind Sie gekommen. Ich mußte fort, und Sie machten mir meine Klienten abspenstig.« 

Als ich für einen Augenblick an die Gesichter dachte, die meine Klienten machen würden, wenn ich mich auf einmal als Kartenlegerin entpuppte, mußte ich beinahe lachen. Doch die todkranke Frau vor mir schien von dem, was sie sagte, durch und durch überzeugt zu sein. Ihre Anklage ging weiter: »Auch Ihre Kinder haben mir Unrecht getan. Ich habe selber gesehen, wie sie von ihrer Wohnung zu mir herüber Grimassen schnitten, und wenn ich ans Fenster trat, suchten sie mich zu verhexen. Sehen Sie, so!« Und sie hielt drei Finger zusammen und machte eine klassische Zaubergeste. 

Ob meine Kinder den seltsamen, lauernden Raben am Fenster gegenüber wirklich ausgelacht und verspottet hatten, konnte ich nicht sagen. Heimlich mußte ich mir freilich eingestehen, daß sie dazu durchaus fähig waren. Die arme, in ihrem Wahn befangene Kranke fuhr fort: »Sie haben mir alles verdorben! Keine Klienten mehr, und dann die Krankheit! - Ich hasse sie, diese Kinder! Und Ihren beiden Kindern habe ich den stärksten und schrecklichsten Zauber entgegengeschleudert, den ich kenne.« 

Als ich das hörte, tat ich das Dümmste, was ich tun konnte. Bebend vor Zorn sprang ich auf, ging auf die Kranke zu und schrie ihr ins Gesicht: »Meine Kinder? Sie haben sich unterstanden? Fluch über Sie, wenn meinen Kleinen je etwas Böses widerfährt . . .«

Ich bebte vor Zorn und wollte das Zimmer verlassen, ohne ein weiteres Wort aus diesem scheußlichen Munde anzuhören. Aber da machte sie eine müde, flehende Gebärde, die mich daran erinnerte, daß ich am Bett einer Sterbenden stand, die wahrscheinlich gar nicht mehr wußte, was sie sagte und tat. 

Mit leiser, unterwürfiger Stimme fuhr die Kranke fort: »Seien Sie außer Sorge, Frau Bouissou, ich konnte Ihren Kindern nichts antun; mein Zauber war wirkungslos; Sie lieben sie zu sehr. Ihre Liebe umgibt sie wie eine schützende Mauer und deckt sie wie ein Schild. Daher habe ich - Sie verhext, Frau Bouissou. Der Zauber ist fort, ich kann ihn nicht mehr zurückrufen, wie sehr ich es auch bereue . . . Können Sie mir verzeihen?« 

Jetzt, da es nicht mehr um meine Kinder ging, beruhigte ich mich wieder. Die Geschichte machte mich geradezu neugierig. Es nahm mich wunder, wie weit das Wissen dieser modernen Sicora reichte. Ich setzte mich wieder und fragte sie schonungsvoll: ››Die Katze? Das waren Sie?« Auf diese Frage hin wurde sie leichenblass und murmelte mit weit aufgesperrten Augen: ››Sie wußten es und sind dennoch gekommen?« 

Mit der Frage nach der Katze spielte ich auf eine seltsame kleine Begebenheit an, die sich ein paar Wochen zuvor ereignet hatte.

Damals schreckte ich mehrere Nächte hintereinander plötzlich wie im Vorgefühl einer lauernden Gefahr aus dem Schlafe auf. Obwohl meine Wohnung viel größer war als die der Kartenlegerin, hatte sie im großen und ganzen doch die gleiche Zimmeranordnung.

Von meinem Studio aus führte eine kleine Treppe zu einem größeren, etwas höher gelegenen Raum, den ich mir als Schlafzimmer eingerichtet hatte. Als ich in jenen Nächten jeweils plötzlich erwachte, hörte ich erst unten im Studio und dann auf den wenigen Stufen, die zu mir heraufführten, leise tappende Schrittchen. Erst dachte ich mir, meine Katze hätte vielleicht einen kleinen nächtlichen Spaziergang unternommen und kehrte wieder in ihr, vielmehr in mein Bett zurück. Das leise Tappen kam näher, und plötzlich fühlte ich, wie eine Katze auf meine Decke sprang und sofort wieder vom Bett hinunterfiel. Im gleichen Augenblick hörte ich neben meinem Kopfe das Fauchen eines erschrockenen Tieres. Ich griff mit der Hand nach der Seite und berührte das seidene Fell meiner kleinen Katze. Ich hatte doch nur eine! Was war denn mit der anderen, die mir soeben auf die Decke gesprungen war? Ohne mich weiter zu rühren - ich hatte den Knopf für das Nachttischlämpchen unter meinem Kopfkissen -, machte ich Licht. Doch ich sah nichts . . . Als ich mich umwandte, entdeckte ich, wie meiner Katze die Haare zu Berge standen. Mit ihren schwefelgelben Augen verfolgte sie etwas, das für mich unsichtbar sein mußte. Ich hörte nur ihr schweres, böses Knurren.

Als ich sie unter dem Kinn kraulte und mit ihr in der Katzensprache plauderte, beruhigte sie sich langsam. Aber ihre Augen blieben starr auf die Stiege gerichtet. Das wollte mir nicht recht gefallen. Ich stand auf und ging ins Arbeitszimmer hinunter, nachzusehen, ob ich vielleicht - gegen meine Gewohnheit - die Türe nicht richtig verschlossen hatte. Aber Türe und Fenster waren zu und von innen abgeriegelt. Nur im Badezimmer hatte ich zur Lüftung das Fenster offengelassen. Aber dort war die Außenmauer so glatt, daß auch eine Katze nicht heraufklettern konnte. Zudem befand sich das offene Fenster auf der Höhe meines Schlafzimmers, und ich hatte das Tappen von unten heraufkommen hören. . . 

Ich dämpfte das Licht und legte mich wieder nieder. Mein kleines Tierchen war inzwischen ganz gegen jede Katzengewohnheit auf meinem Bett geblieben und starrte noch immer auf die Stiege.

Irgend etwas mußte es abgehalten haben, die mutmaßlichen Spuren selber zu verfolgen. Als ich ihm nochmals über das Fell strich, kam mein sonst so munterer Freund kriechend gegen mein Kissen herauf und kauerte sich auf meine Brust. Dort blieb das eingeschüchterte Tierchen während der ganzen Nacht mit halb zugekniffenen Augen wie ein aufmerksamer Wächter liegen und war nicht dazu zu bewegen, sich einem molligen Katzenschlaf hinzugeben.

Die gleiche unerklärliche Störung wiederholte sich in den beiden folgenden Nächten, und jedesmal fauchte meine Katze mit gesträubtem Fell gegen einen unsichtbaren Eindringling. In der dritten Nacht aber bekam auch ich es mit der Angst zu tun: Das arme Tier zitterte und geiferte mit aufgeworfenen Lefzen, als hätte man ihm Gift gegeben. Über dem hoch gekrümmten Rücken standen ihm wieder die Haare zu Berg, aber auf den Seiten fielen sie ihm schlaff herab, als wäre es krank. Ich zündete alle Lampen an, sprach einen kurzen Exorzismus und beräucherte mein Bett, auf das der unsichtbare Eindringling gesprungen war, mit ein paar Körnchen Weihrauch. Meine Katze rührte sich nicht vom Fleck, folgte mir aber mit ihren Augen und hörte auf zu geifern.

Ich nahm das zitternde Tierchen für eine Weile in meine Arme und stellte ihm dann ein Tellerchen frisches Wasser auf den Boden, das es sofort gierig auflappte. Dann leckte es sich fein säuberlich ab, sprang auf mein Bett und schmiegte sich beruhigt an meine Seite. Als der Morgen zu dämmern begann, rollte es sich vollends zusammen und schlief seinen wohlverdienten Katzenschlaf. 

Da ich mir diese Zwischenfälle sonst nicht erklären konnte, glaubte ich, ein schädliches Fluidum habe sich an mich geheftet - etwas, was bei Medien in der Tat gar nicht so selten vorkommt. 

Nun wußte ich es! Diese Frau mußte keine geringen Kräfte besessen haben, daß es ihr gelingen konnte, die sogenannte Lykanthropie, eine uralte, unerforschte Form der Hexerei, zu praktizieren.

Dieser magische Vorgang, durch den sich die ››Seele« einer Hexe in den Leib eines lebenden Tieres einschleichen kann, ist bis heute in tiefstes Dunkel gehüllt. Wurde das Tier verletzt, so soll auch die Hexe an ihrem eigenen Leibe verwundet worden sein. 

Um zu meiner ››Hexe« zurückzukehren, die ebenfalls behauptete, sich dieser Verwandlungskünste bedient zu haben, so fand ich die Sache zwar recht außergewöhnlich und spannend, glaubte aber trotz meiner nächtlichen Abenteuer nicht recht daran. Es fiel mir daher auch nicht schwer, ihr trotz ihrer bedauernden Versicherung, sie könne den Zauber leider nicht mehr rückgängig machen, mit einem versöhnlichen Lächeln die Hand zu geben. Die Ärzte hatten ihr möglichstes getan, der Seelsorger war «unterwegs - so blieb mir nichts anderes, als ihr noch etwas Lebensmut einzuflößen und, wie es am Bett einer Sterbenden oft geschieht, halb aus Verlegenheit, halb aus Mitleid, von ihrer baldigen Genesung zu sprechen. 

Als ich die kleine Wendeltreppe hinunterstieg, fielen die letzten Strahlen der Abendsonne durchs Fenster, und ich hatte für einen flüchtigen Augenblick den erschütternden Eindruck, auf dem breiten Krankenlager einen gefallenen Engel liegen zu sehen.

 

Michael Bouissou